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Lasst uns über Regionalität sprechen!
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Lasst uns über Regionalität sprechen!

Irgendwo, in den leicht geschwungenen Hügeln zwischen Stille und Gatekeeping liegt die Region. Wo sie anfängt, wo sie endet und was sie bedeutet - darüber habe ich mir Gedanken gemacht.

Irgendwo, in den leicht geschwungenen Hügeln zwischen Stille und Gatekeeping liegt die Region. Wo sie anfängt, wo sie endet und was sie bedeutet - darüber habe ich mir Gedanken gemacht.

Regionalität ist für mich ein Begriff, der in aller Munde ist; über den gleichzeitig aber wahnsinnig wenig gesprochen wird. Irritierenderweise besonders von den Menschen, die ihn sehr aufladen.

Wahrscheinlich ist der Grund dafür gar nicht so schwer herzuleiten: Regionalität als Begriff in der Vermarktung ist nicht klar definiert. Gleichzeitig sind laut Umfragen ca. 80% der Menschen bereit, mehr Geld für regionale Produkte auszugeben - ein höherer Anteil als für Bioprodukte. Wer also auf Regionalität setzt, um seine Produkte zu bewerben, ist immer in dem Dilemma, schwer auf den Punkt bringen zu können, was diese Regionalität nun genau ist, die die Produkte aufwertet.

Worüber sollte man beim Thema Regionalität aber bitteschön sprechen?
In Teilen ist es wahrscheinlich tatsächlich so, dass zu viel Reden die unschuldige Schönheit der Sache etwas befleckt. Gleichzeitig nützt es aber auch nichts, zu ignorieren, dass viele Menschen den Begriff mit Attributen aufladen, die die Produkte gar nicht unbedingt erfüllen. Dieses “Ich kann ja nichts dafür, dass die Leute denken, dass regional dies oder das bedeutet” ist für mich schwer auszuhalten, weil ich selbst so ein großer Fan der Aspekte bin, die Regionalität für mich mit sich bringen kann.

Für mich persönlich braucht es tatsächlich keine konkrete Richtlinie, was Regional nun genau ist. Weder in Form eines Radius, noch durch geografische oder kulturelle Grenzen. Ich finde es schön, dass der Begriff so viel und für jede:n etwas anderes bedeuten kann. Ich wünsche mir aber, dass ein bisschen mehr Transparenz auf der einen Seite und Wissen auf der anderen Seite herrschen würde.

Folgend einmal ein paar Aspekte, die für mich persönlich in das Regionalitäts-Thema mit reinspielen. Falls bei Euch noch weitere Aspekte dazukommen, schreibt gerne einen Kommentar oder eine Nachricht!

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Eines der ikonischen Essen des Nordens: Sauer eingelegter Brathering mit Bratkartoffeln.

Meine vier Eckpfeiler zur Regionalität

  • Regionalität erhält Identität
    Ich glaube, dieser erste Teilaspekt hier ist das, was die meisten Menschen mit Regionalität verbinden. “Ebbes von hei”, wie die Regionalinitiative dort heißt, wo ich aufgewachsen bin: Etwas von hier. Der Aspekt sagt etwas über Identität, das ich selbst erst spät verstanden habe: es ist egal, ob ein Produkt nun besonders oder beliebig ist, ob es schmeckt, oder nur dazugehört - es ist von hier.

    Auf diesen Aspekt blicke ich mit einer Entdeckerbrille: ich selbst habe familiengeschichtlich bedingt gar nicht unbedingt eine Region mit der ich mich identifiziere, sondern schaue auf regionale Produkte und Besonderheiten mit viel Neugier und Freude. Es gibt mir eine weitere Möglichkeit, etwas über eine Region und ihre Menschen zu erfahren. Diesen Aspekt kann man meist erst über die Zeit erleben, weil es viel mit Esskultur zu tun hat und häufig weniger mit Leuchtturmprodukten.

  • Regionalität erhält und enthält Esskultur

    Eng verbunden mit dem Punkt davor und ein Aspekt, der oft unterschätzt wird. Auch wenn regionale Identität im Alltag für viele keine große Rolle spielt (ich komme gerade von der Grünen Woche, wo extrem viele Leute in Tracht herumgelaufen sind und mich gerade Lügen strafen) und Menschen, die “zuhause geblieben sind” die feinen regionalen Unterschiede häufig selbst gar nicht so richtig erleben: selbst coole, hippe, international denkende junge Menschen in unterschiedlichen Gegenden essen unterschiedlich und ihrer persönlichen Prägung nach, die häufig auch regionale Aspekte hat.
    Es gibt eine Bubble von Menschen, die behauptet, Deutschland hätte keine Esskultur. Das halte ich aber für großen, ignoranten Unfug. Es gibt mit Sicherheit nicht “die Deutsche Küche”. Wer das aber vermisst und mit einer Idee “einer” französischen oder “einer” italienischen Küche vergleicht, hat einen Haufen Schüsse nicht gehört.

    Beim Esskultur-Aspekt spielen für mich ikonische Essen wie Labskaus/Grünkohl im Norden oder Kartoffelwurst/Gefillde Kleeß im Hunsrück eine Rolle, aber auch kleinere Geschichten, wie die jüngst überall an der Nahe verschwundenen Wasserweck/Doppelweck (wenn ich Vollzeit-Blogger wäre, würde ich dem mal nachgehen: Die besten südwestdeutschen Brötchen aller Zeiten gibt es seit ein paar Jahren nicht mehr überall, sondern nur noch 08/15-Schrippen), oder der in seiner traditionellen Herstellung im Grunde bereits ausgestorbene Handkäs eine Rolle.

  • Regionalität stärkt und schafft Arbeitsplätze vor Ort

    Hier kommt wieder etwas sehr konkretes ins Spiel, über das sich viele eher rational veranlagte Menschen dem Thema nähern können. Nur weil ein Produkt “von hier” ist, ist es nicht automatisch aus ökologischer Perspektive nachhaltig. Zu manchen Jahreszeiten sind Äpfel aus Neuseeland oder Tomaten aus Spanien von der Klimabilanz her besser als Produkte von vor Ort. Der Versand von Paketen ist meist schon nach weniger als 10km klimatechnisch sinnvoller als eine Einkaufsfahrt über Hofläden. Fast immer ist es aber so, dass Produktion vor Ort Arbeitsplätze vor Ort sichert und Geld in der Region hält. Geld, das dafür sorgt, dass Menschen dort leben können, so Infrastruktur erhalten werden kann und eine Region lebenswert bleibt - eine Art Kreislauf und dadurch extrem wichtig und sozial nachhaltig.
    Ebenfalls ein wichtiger Aspekt: Produkte, die in der Region hergestellt werden, werden unter unseren durchaus fortschrittlichen Lohn- und Arbeitsbedingungen produziert. Etwas, das selten bedacht wird, ich persönlich aber sehr hoch ansiedle.

  • Regionalität kann eine Region erschmeckbar machen

    Das ist etwas, das mich sehr anspricht: Nicht nur Wein kann Terroir haben. Als ich mal die Homepage meiner Familie neu aufgesetzt habe, habe ich gemessen: die Fläche, die am weitesten entfernt von der Hofstelle meiner Eltern liegt, war zu dem Zeitpunkt 1800m Luftlinie weit weg. In normalen Jahren, also denen, in denen nicht die Dürre zu Futterzukauf zwingt, sorgen die Flächen in dem Radius für das Futter der Kühe. Die Milch und viele Produkte daraus enthalten also teilweise nichts anderes als etwas, das den Standort zutiefst widerspiegelt.

    Ähnlich ist es mit den Miesmuscheln, die sich bei der Kieler Meeresfarm als freischwimmende Larve angesiedelt haben, Edelkrebsen, die in der Teichanlage von Helmut Jeske ohne externe Futtermittel aufgezogen werden, oder auch vielen Produkten kleiner Hofmanufakturen, die ausschließlich ihre eigenen Rohstoffe verarbeiten. Bei Wein ist der Terroirgedanke sehr ausgeprägt.

    Vor ein paar Wochen habe ich mit Matthias vom Qulibri Hof zu Butter telefoniert und er hat erzählt, dass er sich aus eigener Milch Joghurt- und Käsekulturen gezogen hat (seht es wie einen Sauerteig (entschuldigt, Milchfreaks)), so dass viele Produkte bei ihm wirklich komplett autochton sind.

Muscheln aus Kiel-Holtenau: der Geschmack der Außenförde..

Wie weit lässt sich Regionalität auf die Spitze treiben?
Ich bin ein großer Fan des brutal-lokalen Ansatzes, den das Restaurant Nobelhart & Schmutzig in Berlin in die Köpfe gebracht hat: die Umsetzung eines konsequenten Radius. Ich sehe das Konzept allerdings eher wie ein Performancekunst-Projekt, das zeigen soll, wie weit das Thema Regionalität gehen kann, was dahinter steckt und was ein wirklich radikaler Ansatz alles bedingen würde.

Hört man sich die Fiete Gastro-Folge mit Billy Wagner an, kommt dieser künstlerisch-soziologische Ansatz auch immer wieder durch: Billy sagt nonchalant, dass sie gar nicht nicht unbedingt den Anspruch haben, das nachhaltigste Restaurant zu sein, ihnen geht es um das Politische und eines der Werkzeuge ist eben auch der ultraregionale Ansatz.

Für mich ist das Nobelhart die Alice Schwarzer der kulinarischen Szene: es schlägt weit außen Pfosten ein, deren gesellschaftliche Hauptaufgabe ist, das Denkbare zu erweitern. Einer dieser Pfosten ist es, Regionalität auf die Spitze zu treiben: für viele ein Reibungspunkt, für mich ein Symbol.

Die Idee des liberalen Regionalismus
Wie man wahrscheinlich bis hier gemerkt hat: ich hab mir schon ein paar Gedanken zum Thema gemacht. Etwas, das ich aber überhaupt nicht mag, ist es, wenn mit Regionalität eine Selbsterhöhung daherkommt. Ich vertrete - wenn man das so staatstragend sagen möchte - die Linie eines liberalen Regionalismus. Denn auch anderswo gibt es tolle Produkte.

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Manche Produkte können nicht überall hergestellt werden, jedenfalls nicht seriös. Ja, es gibt in Norddeutschland inzwischen Wein und auch Wein, der wirklich lecker ist - auf viele Jahre wird es aber weder eine echte Weinkultur, Identität oder auch nur genug Menge geben, als dass das Thema eine ernsthafte Rolle spielen kann.

Wenn man kein so krasses Konzept wie das Nobelhart in Berlin fährt, gibt es keinen Grund, darauf zu verzichten und über den Tellerrand zu schauen. Denn: nur weil manche Produkte nicht “von hier” sind, sind sie vielleicht trotzdem “regional”.

“Regional” ist, wenn ich bei meiner Definition bleibe, nicht etwas wie “links” und “rechts”, das immer anders ist, je nachdem wo man steht. Für mich ist es wie ein Netzdiagramm mit den vier Linien regionale Identität, Esskultur, lokale Wertschöpfung und Terroir.

Nochmal ein Gedankensprung: Mein Bild im Kopf ist ein typisch norddeutscher Pannfisch, der irgendwo an der Schleswig-Holsteinischen Westküste serviert wird, während die Zutaten von überall zusammengezogen werden: das Gericht erfüllt alles von persönlicher Identität über Esskultur bis zu den Arbeitsplätzen und repräsentiert die Gegend - während er eigentlich physisch nichts mit der Region zu tun hat, also definitiv kulturelles Terroir, in keinster Weise aber physisch-sensorisch Terroir liefert. Trotzdem würde niemand dran zweifeln, dass es ein regionales Essen ist.

Sachsen-Anhaltinische Identität trifft Schleswig-Holsteinische Zutaten.

Für Fortgeschrittene gilt: Regionalität kann reisen!
Ich glaube, dass das Ziel meiner Beschäftigung mit Regionalität ist, sie überall erkennen, schätzen und wertschätzen zu können - auch wenn vielleicht nicht alle Aspekte gleichermaßen oder vollkommen erfüllt sind. Für mich ist Regionalität nicht linear, sondern eher wie das beschriebene Netzdiagramm: die Summe, mein persönlicher “Regio-Score” kann über verschiedene Wege zusammenkommen und jeder gewichtet die Linien auch unterschiedlich. Unter den Reaktionen zu meinem letzten Text zu Bio, Regio und Relawi kam beispielsweise sowohl viel zu dem emotionalen Aspekt Identität und dem rationalen Ansatz Wertschöpfung.

Der Pannfisch trägt nur minimal zu regionaler Wertschöpfung bei. Kein Fischer vor Ort, keine Gärtnerei, keine Senfmanufaktur, kein Bauernhof, keine Molkerei, keine Fleischerei: Keine Urproduktion vor Ort profitiert davon, wenn das Restaurant beim Foodservice mit dem günstigsten Angebot einkauft, der seine Ware am Großmarkt zusammenzieht. Der mag vielleicht “der regionale Partner” aus der nächstgrößeren Stadt sein, aber realistisch profitiert die Region erstmals in Person der Fahrer:innen und später durch das Lager-, Küchen- und Servicepersonal. Trotzdem hat der Pannfisch seine Daseinsberechtigung im “regionalen Vielklang”.

Andererseits gibt es vielerorts Produkte, die alles erfüllen und dadurch eine tiefe Berechtigung haben, die auch nicht verloren geht, wenn sie andernorts genossen werden. Das ist mir immer ein Anliegen, weil ich Bewegungen immer nur aushalte, wenn sie sich über die Gemeinsamkeiten und nicht über die Abgrenzung von Anderen identifizieren.

Schön, drüber gesprochen zu haben.
Beim Versuch, jetzt eine Schleife an den Text zu bekommen, musste ich drüber schmunzeln, dass ich bei aller Ausführlichkeit den Elefanten im Raum gar nicht berührt habe: was ist nun die Region? Welcher Radius, welcher Natur- oder Kulturraum? Mein Standpunkt dazu ist ebenfalls liberal: ist ein Produzent transparent, darf die Region gerne selbst definiert sein - so klein oder groß das nun sein mag.

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Darf man das? Eine Pizza mit Grünkohl, Kochwurst und Blauschimmelkäse. Die Zutaten sind regional, der Geschmack großartig..

Fotokontexte:

  1. Kühe auf dem Bornwiesenhof meiner Familie.

  2. Brathering aus der Schlei im ODINS Haithabu in Schleswig.

  3. Muscheln von der Kieler Meeresfarm in Kiel-Holtenau.

  4. Schwartenwurst nach Familienrezept von Oliver Firla im ODINS Haithabu mit Kümmel von der Schlei.

  5. Whisky von Hinrichsens Farm Distillery auf Föhr.

  6. Grünkohlpizza als eine von vielen Winter-Variationen des großartigen Jan-Ole Didwischus im ODINS Haithabu.

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